Atomarer Staat im Staat: zivil-militärische Verzahnung selten so dokumentiert!
Im Vorfeld zur Veröffentlichung der Studie "Wie erklärt sich das unbedingte Festhalten britischer Regierungen an der Nuklearenergie?" schließen die Autoren Andy Stirling und Phil Johnstone von der Universität Sussex die Beschaffung von Spaltmaterial für die britischen Atomsprengköpfe als Motiv für den geplanten Bau der zwei Reaktoren von Hinkley Point C (HPC) aus. Denn die Wiederaufbereitung abgebrannter Brennstäbe aus den existierenden AKWs in der WAA Sellafield habe dem Vereinigten Königreich (UK) eine „Plutonium-Schwemme“ beschert.
Die relevanten Fragen sind für die Forscher der Science Policy Research Unit (SPRU), Universität Sussex, in ihrem Beitrag für The Guardian vom 7. August 2016 vielmehr: "Was, wenn diese [zivil-militärischen] Verbindungen weniger mit den Waffen selbst, als vielmehr mit den umfangreichen technischen Systemen zu tun haben, die erforderlich sind, um die dazugehörigen Atom-U-Boote zu betreiben?" Schließlich seien es diese unglaublichen technischen Glanzleistungen mitsamt ihrer breiten Palette, Kapazität und Reichweite, die die nukleare Abschreckung glaubhaft machen. Wie in der Kampagne zur letzten Unterhauswahl hervorgehoben worden sei, stützt sich diese Infrastruktur auf ganz spezielle Konstruktionsfachleute, Ingenieursfertigkeiten, Liefer- und Versorgungsketten und gesetzlich-administrative Regelungskompetenzen.
Die Autoren fragen: „Gibt es die Sorge, der Verlust der zivil-nuklearen Kapazitäten führe dazu, dass die Glaubwürdigkeit der nuklearen Abschreckung abnimmt? Gibt es wie in manch anderen Staaten so etwas wie einen „Staat im Staat“, der den Verlust des geliebten Elite-Status fürchte, der einem auf der Weltbühne durch die nukleare Abschreckung verliehen wird?" Immerhin habe der Historiker David Edgerton in seinem Buch "Warfare State“ aufgezeigt, dass es in Großbritannien einen „Militärstaat“ gibt, der starken Einfluss auf die nationalen Technologie-Strategien nimmt.
Und so kreuzt ständig eines der vier atomgetriebenen Vanguard-U-Boote mit seinen Atomsprengköpfen auf Trident-Raketen patrouillierend in den Weltmeeren herum. Dazu kommen weitere sieben atomar betriebene Jagd-U-Boote.
Am zivilen Atomprogramm mitnaschen
Atom-U-Boote mit ihren kleinen Druckwasserreaktoren bieten also die Antwort auf die Frage, warum in Großbritannien auch in Zukunft eine zivile Atom-Infrastruktur – wie beispielsweise die Hinkley-Reaktoren – bereitstehen soll:
- Denn, um ein militärisches Atomarsenal aufrechtzuerhalten, braucht man einen ansehnlichen Pool von Kernphysikern, Ingenieuren, Universitätsinstituten, Professoren, Studienabsolventen, Technikern usw.
- Es wäre sehr teuer, dieses ganze Atom-Establishment einzig wegen eines militärischen Atomprogramms zu erhalten und durchzufüttern – viel besser, man verteilt die Kosten auch auf ein ziviles Atomprogramm, welches zu guter Letzt den Löwenanteil der Kosten trägt.
- Nuklearwissenschaft und Nukleartechnik würden unattraktive und unsichere Karriereaussichten bieten, falls diese ausschließlich an Jobs im Bereich der atomaren Massenvernichtungswaffen gebunden wären.
- Es ist wichtig, die Kosten der gesamten nuklearen Brennstoffkette von der Uransuche und –anreicherung bis zur Lagerung des Atommülls zu verteilen, sodass ein militärisches Atomprogramm billig an einem viel größeren zivilen Atomprogramm mitnaschen kann.
Der Atomfilz demontiert die Energiewende Schritt für Schritt
Um diese zivil-atomare Melkkuh auch in Zukunft zur Verfügung zu haben, hat das britische Atom-Establishment Anfang der 2000er Jahre eine dramatische Wende der nationalen Energiestrategie geschafft. In der 2003er Ausgabe des Weißbuchs zur künftigen Energieversorgung verwarf Tony Blairs New-Labour-Regierung Atomstrom als unattraktiv und zu teuer. Das Land solle „stattdessen Erneuerbare und Energieeffizienz fördern“.
Diese Einsicht währte jedoch nicht lange. Völlig überraschend folgte eine der spektakulärsten Kehrtwenden in der jüngeren britischen Politik. Nach nur drei Jahren wurde eilends ein neuer Energy Review fertiggestellt. Dabei gab es weder Veränderungen der Rahmenbedingungen noch neue Argumente. Trotzdem setzte das Papier von 2006 eine robuste Pro-Atom-Politik in Kraft. Und obwohl es durch eine gerichtliche Überprüfung gekippt wurde, weil es zu oberflächlich war, entgegnete die Blair-Regierung nur, dass jegliche weitere Neubewertung „die eingeschlagene politische Richtung in keiner Weise beeinflussen“ könne. Seitdem, so Johnstone und Stirling, habe sich die britische Befürwortung der Atomkraft immer mehr gefestigt.
Im selben Zeitraum fand hinter den Kulissen ein intensiver politischer Aufruhr um die geheimnisvolle U-Boot-Frage statt. Bis 2004 lief die kapitalkräftige KOFAC-Kampagne (Keep Our Future Afloat – "Haltet unsere Zukunft über Wasser"), die darauf abzielte, die Auslastung der Barrow-Werft aufrechtzuerhalten, in der Atom-U-Boote und Kriegsschiffe gebaut werden. Eine der effektivsten Lobbygruppen des Landes, ein Konsortium aus Atomindustrie, Gewerkschaften und atomabhängigen lokalen Behörden, sollte „Lobbying für den Marineschiffbau als Kernstück der Rüstungsindustrie des Landes bei politischen Ereignissen und Veranstaltungen der Rüstungsindustrie“ betreiben. Dieselbe Organisation engagierte sich auch eifrig in der energiepolitischen Beratung und hob die Wichtigkeit eines gemeinsamen Kompetenzpools für den zivilen und militärischen Nuklearbereich hervor. War das 2003er Energie-Weißbuch noch etwas aus der Art geschlagen, so wurde schon 2005 beim US-amerikanischen Streitkräfte-Berater RAND eine Studie für das britische Verteidigungsministerium in Auftrag gegeben. Diese beschrieb detailliert die Risiken, denen das Abschreckungs-Konzept und die U-Boot-Bauer durch Arbeitskraft- und Know-how-Verlust ausgesetzt seien.
Zivil-militärische Verbindungen knüpfen
Mit derselben Stoßrichtung folgte eine ganze Serie ähnlicher Dokumente aus dem Verteidigungsministerium, dem Verteidigungsausschuss und anderen Sicherheitseinrichtungen. Schließlich wurde 2006 auch ein neues Weißbuch zur Verteidigungspolitik vorgelegt, das nochmals das Bekenntnis zur nuklearen Abschreckung bekräftigte. Gleichzeitig erschienen besorgte Abgeordneten-Briefings, neue Forschungsprogramme wurden aufgelegt und die Regulierungsbehörden stimmten auf der zivilen Seite mit ein in die Rufe, „die nukleare Option offenzuhalten“.
Der britische U-Boot-Bauer BAE Systems brachte eine Gruppe von Schlüssel-Zulieferern zusammen, um die Koordination innerhalb der Nuklearfirmen zu verbessern. All das gipfelte 2009 in der Eröffnung des Global Nuclear Skills Institute durch die Regierung. Ohne viel Aufhebens deckt der Aufgabenbereich dieses „Nuklear-Kompetenz-Instituts“ die entscheidenden gemeinsamen Kompetenzen zwischen dem zivilen und dem Verteidigungssektor ab.
„Unsere Reaktoren sind modular gestaltet. Die Art von Modulen, die BAE Systems in seine U-Boote montiert, ist exakt vom selben technologischen Ansatz wie die, die wir in unseren Kernkraftwerken verwenden“, gab Adrian Bull, Sprecher des Reaktorbauers Westinghouse, in einer Unterhaus-Ausschusssitzung im Juli 2008 zu Protokoll. „Es gibt also viel Spielraum für einen fruchtbaren Austausch und für Synergien zwischen beiden Seiten. Da sind Potenziale für Menschen, die in den einen Bereich einsteigen und ihre Karriere in dem anderen Bereich fortsetzen, und ich denke, dass diese Vielfalt ein Attraktivitäts-Plus ist, um Menschen in die Kernenergie zu holen.“
Die Konkurrenz von der französischen Areva teilt die Sorge über Kompetenzverlust durch Nachwuchsmangel. Areva-UK-Chef Robert Davies, der später den Zuschlag für die EPR-Blöcke in Hinkley Point bekam, sagte, er sehe den britischen Markt als "Sprungbrett für eine europäische Atom-Renaissance". Bevor Davies für den Reaktorneubau bei Areva zuständig war, kommandierte er 25 Jahre lang bei der Royal Navy Kriegsschiffe.
Damit führt er uns auch zu EURATOM: Es wäre extrem naiv zu glauben, in der europäischen Atomindustrie, unter den Atomwissenschaftlern, in den Branchen-Gewerkschaften sowie unter den EU-Militär- und Geostrategen sei dieses „fruchtbare“ Zusammenwirken kein Thema.
Ganz im Gegenteil: bei genauerem Hinschauen und Analysieren stößt man auf eindeutige Befunde in diese Richtung - und das über Jahrzehnte (siehe etwa die EURATOM Watch-Beiträge zu den atommilitärischen Absichten hinter EURATOM von 2004 und 2014).
Hauptquelle: unser Dank gilt:
Eva Stegen, Klimaretter.Info vom 31.08.2016: Ein AKW zur atomaren Abschreckung
Ergänzt mit: Oliver Tickell, The Ecologist vom 26.08.2014: Bombs Ahoy! Why the UK is desperate for nuclear power
Fotocredit: Christoph Wolter / jugendfotos.de