Grenzüberschreitende Mitsprache: „Grundproblem ist der EURATOM-Vertrag“

Einem möglichen Atomunfall in Belgiens marodem KKW Tihange bei Lüttich, nur etwa 60 km von Aachen entfernt, wollen die Aachener StädteRegion und niederländische Kommunen nun juristisch begegnen.

Der Direktor für Europapolitik des Naturschutzbunds Deutschland e.V. (NABU), Claus Mayr, findet im Interview mit EurActiv vom 2. Februar 2016: „Das ist ein wichtiges politisches Signal!“ Er bezweifelt allerdings, dass sich der Betrieb und die Laufzeitverlängerung der Reaktoren gerichtlich stoppen lassen. Einzig bessere gegenseitige Information sei einforderbar, etwa dank der vom Europaparlament und den EU-Mitgliedstaaten im Jahr 2003 beschlossenen europäischen Umweltinformationsrichtlinie (RL 003/4/EG)

„Aber darüber hinaus? Da die Ein- und Abschaltung oder die Laufzeitverlängerung von Atomkraftwerken nicht UVP-pflichtig sind,“ bieten nach Ansicht Mayrs die Richtlinie zur Umweltverträglichkeit (RL 85/337/EWG bzw. RL 2011/92/EU) und die Vorschriften zur grenzüberschreitenden Umweltverträglichkeitsprüfung im Rahmen der Espoo-Konvention „vermutlich keine Handhabe.“ Eben eine grenzüberschreitende UVP vor einer Entscheidung über eine Laufzeitverlängerung für beide belgischen AKWs Tihange und Doel hatte sich Bundesumweltministerin Barbara Hendricks bei ihren Gesprächen in Belgien Anfang Februar gewünscht – „auch wenn es nach derzeitiger Rechtslage nicht zwingend dazu verpflichtet gewesen" ist.

„Wie kommt es“, fragt EurActiv den NABU-Europaexperten, „dass es bei Fragen der grenzüberschreitenden nuklearen Sicherheit keinen festen rechtlichen Rahmen gibt? – Claus Mayr: „Das Grundproblem ist nach wie vor der EURATOM-Vertrag von 1957 (!), nach dem immer noch jeder EU-Staat alleine über Bau und Betrieb von AKW entscheiden darf. Auch die von der EU-Kommission nach Fukushima 2011 geplanten Kontrollbefugnisse für „Stresstests“ erhielten seinerzeit im EU-Ministerrat und im Europaparlament keine Mehrheit.“ Und insoweit stimmten auch Hendricks‘Aussagen, dass es keine Einflussmöglichkeit auf die Entscheidungen der belgischen Kontrollbehörden gebe.

Das führt EurActiv zur grundsätzlichen Frage, ob es nicht „nach fast 60 Jahren und angesichts der katastrophalen Atomunfälle der letzten Jahre“ vielleicht Zeit wird, „dass sich die EU auf eine Überarbeitung des EURATOM-Vertrages verständigt.“ Mayr sieht dafür – etwas – verbesserte Chancen, „seit nach Tschernobyl (April 1986) und insbesondere nach Fukushima (März 2011) etliche EU-Staaten Ausstiegsbeschlüsse gefasst haben.“

Die deutsche Bundesregierung sollte, so Mayr weiter, mit Unterstützung von Bundestag und Abgeordneten der Region die wachsende Skepsis gegen die Atomkraft nutzen, um „im Europäischen Rat (Merkel) sowie in den federführenden Ministerräten für Energie (Gabriel) und Umwelt (Hendricks) Mehrheiten für eine Änderung des EURATOM-Vertrages zu schmieden.* Gleiches gilt für das Europäische Parlament.“ Hier seien „nicht nur die CDU-Parteifreunde des StädteRegionsrates Helmut Etschenberg und des Aachener Oberbürgermeisters Marcel Philipp gefordert, sondern vor allem auch Martin Schulz. Denn die bisherigen Versuche von Teilen der Sozialdemokraten, Grünen und Linken, den EURATOM-Vertrag zu ändern, scheiterten bis 2014 an den Mehrheiten in den beiden großen Fraktionen der Konservativen und Sozialdemokraten. Martin Schulz könnte sich hier, bevor er zum Jahreswechsel 2016/2017 voraussichtlich sein Amt als EP-Präsident abgibt, große Verdienste erwerben.“

* Anmerkung PLAGE: Schon eine solche Staatenmehrheit wäre ein gewaltiger Fortschritt und von der deutschen Regierung viel eher zu erreichen als von der österreichischen, die unter dem Druck der NGOs in der Vergangenheit immerhin einige –vergebliche – Anläufe zu einer EURATOM-kritischen Staatenkoalition unternommen hat. Festzuhalten ist allerdings, dass eine Änderung/Revision des EURATOM-Vertrages (Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft / EAG-V) die Einstimmigkeit aller 28 Mitgliedstaaten erfordert! Nichtsdestotrotz: würde sich eine Gruppe williger Staaten bilden, zumal mit Deutschland, dann käme der Stein ins Rollen und begänne für EURATOM das große Erdbeben; das ganze Gewicht des mit jedem Jahr schwerer wiegenden Anachronismus eines seit 60 Jahren unveränderten Atomprivilegienvertrages würde rasch bewusster werden.

Original Interview auf EurActiv