Stillschweigendes Festhalten an EURATOM – ein militärisches Motiv?
“Nur” die “normale” Lobby kann’s nicht sein! Ein Bericht aus der PN 1/2004
Am Ausgangspunkt zu dieser Frage steht eine nicht enden wollende Verwunderung: Der EURATOM-Vertrag, schon seit 1957 nicht angerührt, soll laut Entwurf des EU-Konvents nicht einmal im Zuge der ersten Verfassungsgebung für das gemeinsame, erweiterte Europa reformiert werden – und „alle" schauen zu! Will heißen: nicht die Atomgegner, aber alle Regierungen und fast alle Parlamentarier. Die These ist nicht sehr gewagt: Nicht einmal die Regierung des Landes mit einem „Bundesverfassungsgesetz für ein atomfreies Österreich" (1999) würde in den Verhandlungen um die EU-Verfassung das Thema auch nur anschneiden, wären da nicht die Atomgegner aktiv. Auf den ersten Blick scheint das noch nicht umwerfend ungewöhnlich: schließlich reagieren die Regierungen, anderswo wie hierzulande, meist nur auf Druck von „unten". Dennoch, gerade langjährigen, illusionslosen Antiatom-Aktivisten drängt sich die Frage auf:
Warum d i e s e Stille um EURATOM in der EU-Verfassung? Diese Passivität der „atom-frei"-Staaten? Dieses Geschehenlassen gegenüber dem Konventspräsidenten und Atomlobbyisten ersten Ranges, V. Giscard d’Estaing?!? Mit „bloßen" Industrielobby-Interessen ist das Ausmaß des Schweigens und der Untätigkeit zu EURATOM kaum erklärbar: die könnte man eingestehen, sie sind der Öffentlichkeit bewusst.
Es muß wohl mit uneingestandenen Beweggründen zu tun haben. Eine einzige Kategorie von Gründen ist vorstellbar, die zum einen noch stärker sind als das üblicherweise ausreichende Gewicht der industriellen Atomlobby und zum andern äußerst ungern offen diskutiert würden: Beweggründe militärischer Natur. Gründe, die man in Österreich noch weniger eingestehen will als in den anderen EU-Staaten, denn: erstens war dieses Land der erste Industriestaat mit ausdrücklichem Verzicht auf zivilen Atomenergieeinsatz; zweitens hat es eine besondere Tradition der militärischen Neutralität. Deshalb wäre der österreichischen Öffentlichkeit jegliche Teilhabe gar an militärischer Anwendung der Atomenergie noch schwerer vermittelbar als in „atomgewöhnteren" Ländern. Mehr noch: es scheint, als wollten viele in Österreich gar nicht wissen, an welcher Bestimmung der Zug, auf dem das Land hier mitfährt, letztlich landet. Die Volksvertreter nicht, aber durchaus auch so mancher „kritische Bürger" nicht: der Sprung aus dem „atomfrei"-Status (zivil-atomfrei, nach frühem Ringen; und militärisch-atomfrei „sowieso") hinein in die Teilhabe an einer Atomstreitmacht ist für das Selbstverständnis von Herrn und Frau Österreicher begreiflicherweise kaum verkraftbar. Jedoch:
Die Weichen sind gestellt
Zwei große EU-Mitgliedsstaaten sind nuklear bewaffnet. Wichtige politische und militärische Verantwortliche in der EU haben seit längerem im Stillen die Weichen in Richtung einer gesamteuropäischen Atommacht gestellt. Das zieht für jene Mehrheit von EU-Ländern, die derzeit nicht atomar bewaffnet sind, wesentliche Fragen nach sich; und umso mehr für jene, die auch kein ziviles Atomprogramm haben oder dieses aufgegeben haben:
Sollen wir uns letztlich an atomarer Rüstung und an militärischers Atompolitik in der EU beteiligen – zumindest über deren Mitfinanzierung? Sollen wir einverstanden sein mit kontinuierlicher Uranbeschaffung aus Ländern der “3. Welt” für militärische Zwecke der EU? Soll die große, bei Bordeaux in Frankreich geplante Anlage zur Simulierung von Atomtests schlussendlich das Fundament für die ständige Entwicklung neuer oder “verbesserter” Atomwaffen für die EU-“Verteidigung” werden? Beobachten die Regierungen nichtnuklearer Staaten in Wirklichkeit mit versteckter Genugtuung, wie all dies und mehr vorbereitet wird – (a) weil sie kaum gegen die militärischen Atommächte Frankreich und Großbritannien aufzustehen wagen; und (b) weil sie im Grunde ohnehin eine Supermacht Europa herbeiwünschen, die mit den USA rivalisieren kann, und sich ein solches Europa daher nicht anders vorstellen können als mit ähnlichem nuklearem Bedrohungspotential und mit der entsprechenden Infrastruktur in Wissenschaft, Industrie, Militär und Finanzen ausgestattet?
Nicht die GRÜNEN allein sind hier mit Antworten in der Pflicht. Vor dem Hintergrund ihrer – auch noch heutigen – Programme allerdings sind sie in besonderer Weise herausgefordert, scheinen sich aber ebenfalls um die Frage eher zu drücken. Es wäre ein interessanter Test, grünen Spitzenakteuren wie J. Fischer oder J. Voggenhuber die Frage zu stellen, ob sie für die Zukunft der EU eine nukleare oder nichtnukleare Verteidigung sehen …
Indizien-Kette
Je näher es rückt, umso weniger spricht man von Europa als atomar geschützter Weltmacht. Diese schon vorhin erwähnte Tabuisierung bedingt, daß man offene Aussagen dazu (a) eher im Gestern als Heute und (b) eher andersowo als in Österreich auffindet:
Jänner 1992, “Rencontres internationals pour l’Europe” (“Internationale Begegnungen für Europa”): Frankreichs Staatspräsident Mitterrand vollzieht eine entscheidende Abkehr von der gaullistischen Nukleardoktrin. Erstmals spricht ein französischer Staatschef davon, die französische Atomstreitmacht in das geplante europäische Sicherheitsbündnis einzubringen. Frankreichs Ex-Außenminister J. Francois-Poncet erklärt: “Am Ende des Weges zur europäischen Solidarität wird klarerweise auch eine nukleare Solidarität stehen.” Für den mächtigsten Mann in der EU (damals noch EG), Kommissionspräsident Jacques Delors, ist die Politische Union, wie sie im Maastricht-Vertrag niedergelegt ist, ein Schritt zu einer gemeinsamen europäischen Atomstreitmacht. Beim selben Treffen stellte er die rhetorische Frage, “warum man nicht eines Tages, wenn es eine sehr starke Europäische Union gibt, dieser politischen Autorität die Atomwaffe übertragen sollte.”
Rasch wird der Plan konkret zwischen den beiden Nuklearmächten innerhalb der EG/EU, die zwangsläufig die Keimzelle jeglicher nuklearer “Supermacht Europa” bilden würden: “FRANKREICH SCHLÄGT BRITEN ATOMARE KOOPERATION VOR” (Schlagzeile in der Süddt. Zeitung vom 3.10.1992). Auch für den damaligen Generalinspekteur der deutschen Bundeswehr, General Klaus Dieter Naumann, ist in einem SPIEGEL-Interview (42/1991) das neue Europa “auf Atomwaffen angewiesen”. Dass es sich hierbei nicht “nur” um eine Zusammenfassung der französischen und britischen Atomstreitmacht handelt, sondern um eine europäische unter europäischem Oberkommando, macht u.a. der französische Armeegeneral Michel Fennebresque in Le Figaro vom 4. September 1992 deutlich. Bezeichnenderweise plädiert er nachdrücklich für ein “Ja” der Franzosen zum Maastricht-Vertrag. Denn “ein französisches `Nein` zu Maastricht” hätte "noch ärgere Auswirkungen” auf die gemeinsame europäische Verteidigung als das Scheitern ähnlicher Pläne (Fouchet-Plan) in den 50er und 60er Jahren. Unter dem Titel “Hin zu einer gemeinsamen Verteidigung” sagt General Fennebresque: “Europa ist dichter bevölkert und reicher als die USA. Um eine Rolle in der Weltpolitik zu spielen, muss es über eine militärische Kapazität gleicher Größe (wie die USA) verfügen.” Und dazu gehört bekanntlich ein riesiges atomares Arsenal.
Dies sind die Visionen maßgeblicher Entscheidungsträger in der Europäischen Union. Dies ist die Hauptbedeutung des Begriffes “Solidarität” in der EG/EU-Neusprache. Vor zehn Jahren, zu EG-Zeiten; und heute, nach dem Irak-Krieg der USA, umso mehr. Die Aufholjagd gegenüber den USA lässt ganze Phalanxen von EU-Politikern in nationalen wie in EU-Institutionen die Notwendigkeit gemeinsamer Militärpolitik und Rüstung beschwören. Auffällig – aber quasi “logisch” – dabei: das Wort “atomar”, “nuklear” tritt dabei so gut wie nicht in Erscheinung. Die Polit-, Militär- und PR-Strategen wissen, daß “gemeinsame Atomstreitmacht”, “europäische Kernwaffen”, “EU-Atombombe”, “Atomtestanlagen für die gemeinsame europäische Verteidigung” bei Millionen von Europäern augenblicklich und nachhaltig ganz andere Assoziationen wecken würden als “europäisches Sicherheitsbündnis”, “gemeinsame europäische Rüstungsanstrengungen”, “europäische Solidarität bei der Verteidigung” und ähnliches.
Bedeutung für die Perspektiven eines Atomausstiegs
Und eben deshalb sollten wir die eingangs gestellten Fragen nicht vergessen. Denn man kann zwar das genaue Ausmaß nicht vorhersagen, sicher ist aber, dass bei einer gemeinsamen EU-Atomstreitmacht die zivile Atomenergienutzung in der EU festgeschrieben ist. Es würde den meisten Entscheidungsträgern ja geradezu dumm vorkommen, Plutonium in eigenen militärischen Reaktoren zu erzeugen, wenn man es aus Kraftwerken kriegen und gleichzeitig Strom gewinnen kann – “zwei Fliegen mit einer Klappe”. Und es wäre tatsächlich dumm, solche militärischen Zwecke nicht so lange wie möglich hinter der trefflichen Abschirmung ziviler – “friedlicher”! – Atomkraft zu verbergen.
Für alle jene, die dennoch und immer noch bezweifeln, dass eine derartige Aussicht realistisch ist, gibt es dieses wunderbare Vorwort von Admiral Pierre Lacoste, Präsident der “Fondation pour les Etudes de Defénse Nationale” und einer der höchstrangigen französischen Militärs zu “30 Jahre Erfahrung mit Euratom – Die Geburt eines nuklearen Europa”:
“(…) Wird Europa seine Ängste und Aberglauben überwinden können und fähig sein, auf dem Weg der Einheit hin zu einer völligen Beherrschung der Kernenergie fortzuschreiten? In ihrer militärischen Form ist sie zweifellos berufen, noch auf Jahre hinaus eine unersetzliche Rolle zu spielen – indem sie jeglichen potentiellen Aggressor daran hindert, einen bewaffneten Konflikt in Europa zu beginnen. In ihrer industriellen Form vermag sie uns den Zugang zu unerschöpflicher Energie zu garantieren – die oberste Voraussetzung für Entwicklung und Wohlstand und damit für den Frieden.” (im Vorwort zu Olivier Pirotte et al.: Trente ans d’expérience Euratom – La naissance d’une Europe nucléaire. Bruylant, Brüssel 1988)
Während in den frühen 1990ern einige begründete Hoffnung auf bescheidenen, aber kontinuierlichen Fortschritt in der atomaren Abrüstung bestand, bestätigt die Lage, mit der wir jetzt konfrontiert sind und die die Zukunft prägen könnte, die – in seinen Augen positive, in unseren negative – Erwartung von Admiral Lacoste, dass die Nukleararsenale “auf Jahre hinaus eine unersetzliche Rolle” spielen warden. Was wiederum so sicher wie das Amen im Gebet sich in einer Unterstützung für die zivile Atomanwendung niederschlägt (Ergänzung: siehe den Beschluss von Juli 2016 zur Erneuerung der britischen Atom-U-Bootflotte und ihrer nuklearen Sprengköpfe, den endgültigen Beschluss zum Bau von Hinkley Point C im September 2016 sowie den eng verwobenen zivil-militärischen Atomkomplex Frankreichs).
Zum Download: zur Vertiefung des militärischen Aspekts stellen wir das Kapitel 11 unserer EURATOM Broschüre "Atomstaat - Zweiter Anlauf" aus dem Jahr 1993 zur Verfügung
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