Gesetzlich erlaubte Kontamination der Lebensmittel im Falle eines Atomunfalls

Unten stehend ein Auszug aus der Analyse des unabhängigen französischen Strahlenmessinstituts CRIIRAD vom 21. Mai 2015 für die Abgeordneten zum Europaparlament
(dt. Üs. durch PLAGE 10.7.2015)

Anmerkung PLAGE: Die EURATOM-Verordnung, welche CRIIRAD und die PLAGE in unten stehender Analyse scharf kritisieren, wurde am 16.01.2016 vom EU-Ministerrat verabschiedet.

Das Vorhaben der Europäischen Kommission

Die Vorlage setzt die zugelassenen Höchstwerte radioaktiver Verseuchung fest, die bei einem Atomunfall für Lebensmittel gelten werden. Das Europaparlament hat am 9. Juli seine Stellungnahme dazu abgegeben, und der Rat der Europäischen Union sollte bis Ende 2015 seinen Beschluss dazu fassen. Da es sich um eine Verordnung handelt, ist dieses Dokument, falls es angenommen wird, unmittelbar und zwangsläufig sowie ohne Änderungsmöglichkeit in allen EU-Ländern anzuwenden.

Grenzwerte werden für vier Radionuklidgruppen: Plutonium, Strontium, Jod und Cäsium, und für 5 Kategorien von Lebensmitteln festgesetzt: Babynahrung, Milch, Getränke (einschl. Trinkwasser), Grundnahrungsmittel (Fleisch, Fisch, Gemüse, Obst, Getreide…) und sogenannte Lebensmittel von minderer Bedeutung. Wenn der Höchstwert überschritten wird, darf das Produkt nicht auf den Markt; wird er nicht überschritten, dann dürfen in der EU Lebensmittel aus den kontaminierten Ländern unbeschränkt gehandelt, importiert und exportiert werden.

Inakzeptable Risiken

Radioaktive Substanzen sind krebserregende, mutagene und genotoxische Schadstoffe. Darum müssen die Belastungswerte, die die europäischen Behörden als „zulässig“ erachten, unbedingt ausreichenden Schutz für die Bevölkerung gewährleisten. Das ist jedoch nicht der Fall.

Die im Verordnungs-Entwurf angegebenen Grenzwerte bedeuten unannehmbar hohe Risiken, wobei die Kinder mehr als alle anderen gesundheitlicher Schädigung ausgesetzt werden. Weiters ist keinerlei besondere Schutzmaßnahme für schwangere Frauen und stillende Mütter vorgesehen (obwohl Fötus und Säugling die empfindlichste Altersgruppe sind und Nuklide wie das radioaktive Jod leicht in die Muttermilch gelangen).

Glaubt man der Europäischen Kommission, garantiert die geplante Verordnung einen effektiven Grenzwert von 1 Millisievert (mSv) pro Jahr. Diese Behauptung ist jedoch völlig falsch. Die Nachprüfung durch die CRIIRAD hat ergeben, dass die Belastungen 10-fach, ja bis zu 100-fach höher sind. Dabei stellt schon das Limit von 1mSv pro Jahr ein hohes Risiko dar: bezogen auf die französische Bevölkerung würde 1 mSv etwa 3800 Todesfälle bedeuten. Bei 10-fach höheren Dosen ist mit zehntausenden Todesfällen und einer weit darüber liegenden Zahl von Krebskranken zu rechnen. Wie sind derart auseinandergehende Aussagen zu erklären?

Durch eine Unzahl von schwerwiegenden Irrtümern

Die Vorlage ist völlig nebulos. Weder gibt sie an, welches Maß an Risiko für akzeptabel erachtet wird, noch auf welche Referenzdosis und Annahmen sie die Berechnungen stützt (Essensgewohnheiten, Alters-gruppen, Anteil der kontaminierten Lebensmittel am gesamten Verzehr, Grad der Verseuchung…). Auf drängendes Nachfragen hat die Europäische Kommission schließlich in ihre Vorlage einleitend einen Hinweis auf den wissenschaftlichen Bericht aufgenommen, der die festgelegten höchstzulässigen Grenzwerte rechtfertigt und absegnet. Dieser Bericht wurde 1998 von den Euratom-Experten verfasst (Strahlenschutz-Expertengruppe laut Artikel 31 des Euratom-Vertrags). Wir haben in diesem Dokument eine ganze Reihe von schwerwiegenden Irrtümern und inneren Widersprüchen festgestellt, denen allen eine Tendenz gemein ist: die Strahlendosen und Risiken herunterzuspielen! (Was klarerweise zur Festlegung von viel zu hohen Verseuchungslimits führt.)

Zu den wichtigsten Mängeln gehören:

> Ein massiver und unerträglicher innerer Widerspruch, die Entfernungsklausel: Die Experten selbst geben zu, dass die Grenzwerte festgelegt wurden für einen Atomunfall außerhalb der EU, in über 1000 Kilometer Entfernung von ihren Grenzen. Unter dieser Voraussetzung haben die Experten die Grenzwerte für Situationen berechnet, in denen nur 10 Prozent der Lebensmittel und 1 Prozent des Trinkwassers verseucht wären. Dagegen ließe sich nichts einwenden, wenn die Vorlage angäbe, daß ihr Anwendungsbereich sich auf Lebensmittel aus kontaminierten Ländern außerhalb der EU beschränkt. Einen Hinweis auf eine solche Beschränkung findet man aber nicht. Vielmehr gilt die Regelung für jeglichen Atomunfall, auch innerhalb der EU. Das aber wirft die Berechnungsgrundlagen über den Haufen: der Anteil an verseuchten Lebensmitteln könnte dann weit über 10 % (bzw 1% beim Trinkwasser) liegen, somit würden niedrigere/strengere Grenzwerte erforderlich. Den Experten und Entscheidungsträgern hat doch eine derartige Unlogik nicht entgehen können! Es ist bezeichnend, dass die Euratom-Experten die Kommission aufgefordert haben, sie im Fall einer erheblichen Verseuchung in Europa umgehend zu konsultieren. Dann werde man neue Grenzwerte festsetzen. Aber kein Wort darüber, wieviel Zeit das beanspruchen würde, (zumal ihnen alle 28 Mitglieder der EU zustimmen müssten). Ein heilloses Durcheinander! Eben weil bei einem Unfall schnellstes Handeln erforderlich ist, wurden ja im voraus Grenzwerte festgesetzt, die unmittelbar anzuwenden sind…

> Eine massive Lüge: Die Regelung behauptet, dass die Grenzwerte für flüssige Lebensmittel den Verbrauch von Trinkwasser berücksichtigen. D.h. die Dosis- und Grenzwertberechnung hätte auf Grundlage eines Verbrauchs von mindestens 1 Liter pro Tag erfolgen müssen; wobei die WHO 2 Liter pro Tag empfiehlt. Doch der Euratom-Expertenbericht geht von ein bis zwei Schluck pro Tag aus: 7 ml/Tag für ein einjähriges Kind und 16 ml/Tag für einen Erwachsenen! Derart lächerliche Mengenannahmen führen zur Festlegung von geradezu kriminellen Grenzwerten für einen so lebenswichtigen Stoff wie Wasser! Weil sie derartige Festlegungen offensichtlich nicht rechtfertigen können, haben die Verfasser des Regelungsvorhabens lieber schwarz auf weiß eine eklatante Unwahrheit hingeschrieben, die schwerwiegende Auswirkungen haben kann.

> Unvorstellbare Unterlassungen: Ein einziges Beispiel: Für die sogenannten Lebensmittel minderer Bedeutung werden von den europäischen Behörden sehr hohe Grenzwerte festgesetzt: 10-fach höhere als für die Grundnahrungsmittel. Diese schon prinzipiell fragwürdige Entscheidung könnte man noch verstehen, wenn die Experten nachgeprüft und anhand der Zahlen bewiesen hätten, dass der Verzehr von derart kontaminierten Waren tatsächlich nur vernachlässigbare Auswirkungen hätte. Doch in ihrem Bericht steht kein Wort darüber! Nun aber zeigt die Überprüfung durch die CRIIRAD auf Grundlage der Verbrauchstatistiken der Europäischen Lebensmittelbehörde (EFSA), dass der Konsum von Gewürzen und Aromaten die Gesamtdosis um etwa 20% erhöht. Außerdem sind die Grenzwerte für das Jod 131 in diesen „zweitrangigen“ Lebensmitteln so hoch, dass deren Verzehr in Einzelfällen zur Überschreitung des Limits führen kann. Laut WHO müsste in diesem Fall nichtradioaktives Jod (Tabletten) zum Schutz der Schilddrüse verordnet werden! Das gälte z.B., wenn ein Kleinkind bloße 150 g Süßkartoffeln verzehrt, die den für das Jod 131 festgesetzten Grenzwert erreichen! Wie können „Verantwortliche“ derart nachlässig mit einer derart wichtigen Angelegenheit umgehen?

> Unverständliche „Irrtümer“: Unter den besorgniserregenden Beispielen sei nur der Irrtum über den Koeffizienten genannt, nach welchem die Strahlendosis berechnet wird, die ein Säugling aufnimmt, wenn er mit Plutonium 239 verseuchte Nahrung zu sich nimmt. Der in der Tabelle angegebene (und in den Berechnungen verwendete) Wert ist 10-fach niedriger als der offizielle Wert (den die Experten angeblich verwenden): dadurch werden Dosis und Risiko durch 10 dividiert, und folglich werden 10-fach zu hohe Grenzen festgesetzt. Wie können maßgebende, für unseren Schutz entscheidende Dokumente der elementarsten Qualitätskontrolle entgehen?

> Verurteilenswerte Vorgehensweisen: Eine besonders empörende Vorgehensweise betrifft die empfindlichste Gruppe: die Säuglinge. Anstatt ihre Berechnungen für die Kinder unter 1 Jahr durchzuführen, haben die Experten die Altersspanne von 6 - 18 Monaten gewählt. So können sie die Dosiskoeffizienten der Stufe 1-2 Jahre anwenden, die meist niedriger sind als diejenigen für Säuglinge. Wiederum wird so ermöglicht, höhere Kontaminationswerte festzusetzen. Doch im Bereich des Gesundheitsschutzes müssen die Berechnungen unbedingt auf die empfindlichsten Personen abstellen.

> Sträfliche Nachlässigkeiten: Die doch so wichtige Frage der Schilddrüsenbelastung wird in einer dreizeiligen Fußnote am Ende einer Tabelle abgehandelt! Da wird im Falle einer längeren Inkorporation von Jod 131 lediglich empfohlen, neben der effektiven Dosis auch die Schilddrüsendosis zu überprüfen. Doch liegt es nicht vielmehr an den Experten, solche Überprüfungen durchzuführen (die ihnen gezeigt hätten, dass sogar zeitlich begrenzte Inkorporationen problematisch sind)? Und wer wird das kontrollieren, wenn in der Regelung der Expertenbericht mit keinem Wort erwähnt wird? Die für das Jod festgesetzten Grenzen müssen den Schutz der Schilddrüse unbedingt garantieren. Im Jahr 1998 war von einer Epidemie die Rede, als man eine steigende Anzahl von Schilddrüsenkrebsfällen in der Bevölkerung feststellte, die der Strahlung aus Tschernobyl ausgesetzt gewesen war, insbesondere bei den Kindern, die 1986 jünger als 5 waren. Wie kann man eine für den Gesundheitsschutz der Kinder wesentliche Frage derart leicht-fertig behandeln – in einer bloßen, überdies fehlerhaften Fußnote?

> Eine minimale Begutachtung: In ihrem Bericht haben die Euratom-Experten die Dosisberechnungen lediglich für Erwachsene und Säuglinge (ohne auf das Stillen einzugehen) durchgeführt. Für Kinder und Jugendliche wurden keine Berechnungen angestellt. Dabei sind sie hinsichtlich bestimmter Radionuklide und bestimmter Lebensmittel die meistgefährdete Personengruppe (der Grenzwert für Jod in der Milch hätte die Kleinkinder zu berücksichtigen). Und der Sonderfall des Fötus wurde nicht einmal erwähnt.

> Umstrittene Entscheidungen: In ihrem Bericht vom Jahr 1998 geben die Euratom-Experten zu, dass die zugelassenen Höchstwerte nicht auf die Risikogruppen ausgelegt sind, insbesondere nicht auf die Konsumenten von Nahrungsmitteln vorwiegend lokaler Herkunft. Die zulässigen Höchstwerte müssten herabgesetzt werden, um einen allgemeinen Schutz zu gewährleisten, aber die Experten empfehlen eine andere Lösung: man solle die Bevölkerung über die besonderen Gefahren, denen sie ausgesetzt ist, informieren. Schützen soll sie sich selbst, der Staat soll sie bloß informieren!

Und man könnte noch viel mehr darüber sagen, z.B. über die fehlerhafte Klassifizierung von manchen Radionukliden (z.B. Uran-Isotopen in der Cäsium-Gruppe) oder falsche Berechnungen, die auf Irrtümer in der Anwendung mancher Grenzwerte zurückgehen. Oder über die fehlende Summierung von Schad-stoffen (als ob ein großer Atomunfall nicht zu einem ganzen Cocktail von radioaktiven Stoffen führen würde). Oder auch über die ungerechtfertigte Ausklammerung zweier Radionuklide, Tritium und Kohlen-stoff 14. Usw.usw.

All diese Verzerrungen führen zu einer Verharmlosung der Dosen und zur Kumulierung der Wirkungen. Im Endergebnis: die im europäischen Regelungsentwurf festgesetzten Normen sind äußerst lax. Dadurch werden die Kosten beträchtlich herabgesetzt: je höher die Grenzwerte angesetzt sind, desto weniger kontaminierte Lebensmittel sind zu eliminieren und desto weniger Landwirte und Viehhalter sind zu entschädigen. Aber um welchen Preis für die Gesundheit? Auf dem Spiel steht der Schutz von 500 Millionen europäischen Verbrauchern - darunter zig-Millionen Kinder - vor verseuchten und umweltschädlichen Produkten, die zu Krebskrankheiten bei den betroffenen Menschen und zu genetischen Krankheiten in ihrer Nachkommenschaft führen können. (Und von den zahlreichen Pathologien, die der offizielle Strahlenschutz nach wie vor nicht berücksichtigt, ist dabei gar nicht die Rede.)

Feststellen, wer verantwortlich ist

Wie lassen sich solche Missstände erklären? Mit Inkompetenz? Unbekümmertheit? Absichtlicher Täuschung? Mit dem Wunsch, den statutarischen Auftrag des Euratom-Vertrags zu erfüllen, d.h. die Nuklearindustrien rapide zu entwickeln? Die CRIIRAD kennt die Antworten nicht, möchte aber Erklärungen und Sanktionen erreichen.

Per Mail vom 21.04.2015 und dann per eingeschriebenem Brief hat die CRIIRAD den für öffentliche Gesundheit und Lebensmittelsicherheit zuständigen Europakommissar um die Bekanntgabe der Euratom-Experten gebeten, die für den Bericht von 1998 und die positive Stellungnahme von 2012 verantwortlich sind. Diese Stellungnahme vom 21. November 2012 bestätigt nämlich die Schlussfolgerungen des Berichts aus dem Jahr 1998: d.h. die Höchstwerte von 1987 sind immer noch gültig und können ohne Änderung in die Vorlage für die neue EU-Verordnung übernommen werden. Die Experten haben weder die unerhörten Ungereimtheiten und Fehler im Schutzmechanismus behoben noch dessen Lücken gefüllt. Etwa bedauerten die Experten 1998 den Mangel an Informationen über die Ernährungsgewohnheiten der europäischen Verbraucher. Inzwischen hat die EFSA eine umfassende Datei der Konsumgewohnheiten in den verschiedenen europäischen Ländern erstellt. Aber die Euratom-Experten hielten es nicht für notwendig, davon Gebrauch zu machen, um die Mängel in den ursprünglichen Einschätzungen zu korrigieren.

Ein weiteres Beispiel: im Jahr 1990 wurden beim Viehfutter nur Cäsium 134 und 137 berücksichtigt - 25 Jahre später ist kein einziges weiteres Radionuklid dazugekommen! Auch Bestimmungen hinsichtlich der Kontrollen und der dafür nötigen Ausrüstung und Logistik müssten erlassen werden, wo doch jüngste Berichte zeigen, dass schon bei Normalbetrieb die Lebensmittelkontrollen unwirksam sind, ganz zu schweigen von Unfallsituationen.